Winfried
Wessely
DER
STILLE NACHBAR
Der stille Nachbar wohnte in
einem Gemeindebau aus den Dreissigerjahren des Jahrhunderts. Der
stille Nachbar mußte um die dreissig sein. Der stille Nachbar war
eigentlich unscheinbar, aber er war den anderen Bewohnern des
Hauses aufgefallen, weil er zunächst ohne Gardinen gewohnt hatte,
ohne Vorhang oder sonstigen Sichtschutz. So etwas war vielleicht
in Holland üblich, bei den Edamern und Goudas, nicht aber in
Wien, der Stadt der Melange und des Kipferls. Der stille Nachbar
war hager, um nicht zu sagen mager. Maigre. Aber der stille
Nachbar war nicht immer still gewesen. In seiner zuvor von ihm
bewohnten Behausung war einmal die erboste Nachbarin im weißen
Morgenmantel vor der Tür gestanden um Mitternacht, weil der
stille Nachbar zu laut Klavier gespielt hatte. Durchs
Guckfensterchen hatte sie hindurchgezürnt und das war ihm eine
Lehre gewesen, diese Zürnung, so etwas mußte er nicht noch
einmal haben. Nun ja, das lag nun schon Jahre zurück, diese Zeit
in der sogenannten Hormayrgassenwohnung, das war lange vergangen
und verdaut, die Aktualität hieß nun hic et nunc Diefenbach
Gasse. Diefenbachgasse. Er hatte geschluckt, als ihm das
Wohnungsamt die Adresse mitgeteilt hatte. Ging sein Leben nun den
diefen Bach hinunter? Ach was! hatte er dann gedacht, Gassennamen
sind Schall und Schmauch, Rauch und Ruch und sonst gar nichts.
Sein Vorbewohner war ein pensionierter Feuerwehrmann gewesen, der
eines Tages einfach umgekippt war und nicht mehr zum Leben zu
erwecken. Der Gemeindebau in der Diefenbachgasse hatte etwas von
einem Ozeanriesen, der hier in der Nähe des Wienflusses vor
Anker gegangen war. Dem stillen Nachbarn dünkte es ein Zeichen
des Himmels über der Großstadt zu sein, denn er konnte die
Stadt, die laute stinkende Stadt nun zum ersten mal aus neuer
Perspektive sehen, als stillen Ozean mit darin schwimmenden
Ozeanriesen, und das waren die Gemeindebauten. Die Behauptung, daß
nur gemeine Menschen in Gemeindebauten lebten, warf er ab nun zurück.
Der Feuerwehrmann hatte immerhin den Abort der Wohnung mit Holz
verschalt, sehr lückenhaft zwar, aber immerhin. Der stille
Nachbar bat seinen Freund, den einarmigen Tischler, ihm bei der
Renovierung des Aborts behilflich zu sein. Der einarmige Tischler
war ein gutmütiger Mensch, einer der keiner Fliege etwas zu leide
tat - wie man so sagt, abgesehen von dem Fall natürlich, die
Fliege hätte versucht, sich auf die Wurstsemmel zu setzen - aber
das war ja der Sonderfall der Fliegenliebe. Der stille Nachbar
liebte Musik und so beschloß er eines Tages, sich eine
Musikmaschine zu kaufen, mit Plattenspieler, Compactdisk Player
und Doppelkassettendeck, Radio natürlich inklusive. Leider war
ihm dann schlecht geworden im Taxi und er mußte schnell das
Fenster herunterkurbeln und hinauskotzen auf die Fahrbahn. Die
Musikmaschine arbeitete dann auch nicht sehr befriedigend, das
sogenannte Grundrauschen war viel zu laut. Also kaufte der stille
Nachbar eine zweite Musikmaschine, eine viel bessere, und diesmal
ließ er sie anliefern, denn noch so eine Kotzerei, das hätte er
schwerlich ertragen können. Nach einigen Monaten kam der stille
Nachbar mit der älteren Dame aus dem oberen Stock ins Gespräch.
Die ältere Dame sprach ihn auf seine Vorhanglosigkeit an und mußte
bemerken, daß der stille Nachbar nicht aus Prinzip und Überlegung
vorhanglos war, sondern aus Weltunerfahrenheit und Geldmangel. Das
rührte die ältere Dame sehr und sie übergab ihm ihre abgelegte
Garnitur Gardinen, die dann der einarmige Tischlerfreund mithilfe
von Drahtkleiderbügeln und in Ermangelung echter Gardinenstangen
so montierte. Der stille Nachbar besaß eine Platte mit
Winnetou-Filmmusik und eine Platte von den Doors. Am liebsten hörte
er die Winnetou-Filmmusik-Platte. Der stille Nachbar war ein
kultivierter Hörer. Einmal aber kam sein Zwillingsbruder zu
Besuch, um die Doors-Platte zu hören. Weißt Du, Doors muß man
laut hören! sagte der Bruder und drehte sporadisch am Lautstärkeregler.
Schwitzend ließ der stille Nachbar ihn gewähren, das eine Mal.
Aber es hatte sich niemand beschwert. Eines Tages beschloß der
stille Nachbar eine Wanderung zu machen, eine richtige Wanderung
mit Ruck- und Schlafsack und allem drum und dran. Die Wanderung kündigte
sich lange an und sollte lange dauern, sie sollte über Mariazelle
nach Südtirol führen, dann weiter nach Verona zur Opera, einmal
im Leben mußte man doch in Verona gewesen sein und Carmen gesehen
und gehört haben. Von einer guten Freundin, derjenigen, mit der
er die Hormayergassenwohnung bewohnt hatte - nun lebte er ja
allein ohne Kater und Meerschwein - borgte er den Dosenöffner und
die Alu-Matte, damit er nicht friere , wenn er im Freien übernachtete.
Auch die frühere Freundin und Mitbewohnerin war gutmütig, wie überhaupt
der größere Freundeskreis des stillen Nachbarn, denn die
ausufernde Weltunerfahrenheit und Fremdheit erforderten manche
Nachsicht. Der stille Nachbar packte Ruck- und Schlafsack, ließ
sich noch einmal photographieren und begab sich auf den weiten
Weg. Der Zwillingsbruder begleitete ihn noch bis Mariazelle, um
ihm sein Vorhaben auszureden, was den stillen Nachbar ungemein
motivierte oder ihn zumindest in Beweisnotstand brachte, so daß
er nun sicher war, daß er sein Vorhaben auch in die Tat umsetzen
würde. Er würde den Regen am Hallstätter See überstehen und
andere Unbill ebenso. Er würde die Nächte auf den Parkbänken
und unter Eichen und Pappeln überstehen und manchen Gletscher
ersteigen. Einmal schickte er der Freundin eine Ansichtskarte:
"Aufi muaß i aufn Berg, behalt mich in guter
Erinnerung!" Als er seine Wohnung verließ, machte er das
Fenster weit auf, die Wohnung sollte einmal Luft bekommen, wenn er
Luft bekam, so sollte es seiner Wohnung nicht schlechter gehen.
Was er nicht bedacht hatte war, daß der Wind kommen würde und an
seinen Vorhängen ziehen. Das sah besonders nachts geisterhaft aus
und beunruhigte die anderen Bewohner des Gemeindebaus. Die
Hausmeisterin ließ das einige Wochen gehen, dann verlor sie aber
die Nerven und rief die Polizei. Der stille Nachbar hatte niemand
im Haus von seiner weiten Wanderung erzählt, er war im
Morgengrauen aufgebrochen und keiner hatte ihn weggehen sehen mit
Schlaf- und Rucksack. Die Polizei kam und besah sich die Sache,
man klappte den Briefschlitz hoch und vermeinte Leichengeruch zu
bemerken. Die ältere Dame konnte es nicht glauben. Man holte die
Feuerwehr hinzu, die sich sogleich daran machte, die Türe zu
erbrechen. Die ältere Dame aus dem oberen Stock konnte die
Verwirklichung dieser feuerwehrmännischen Untat gerade noch
verhindern, indem sie darauf hinwies, daß der junge Mann, wie sie
den stillen Nachbarn nannte, nicht so viel Geld habe, sich eine
neue Türe zu leisten - sie erinnerte an die
Vorhangschenkungsgeschichte - und ob die Feuerwehr nicht einfach
durchs offene Fenster nachschauen könne, was da passiert sei.
Eine andere Dame, von weiter oben noch - mit fünfzehnjähriger
Tochter - meinte, das sei kein Leichengeruch, der sei viel
strenger, weil sie habe das mal tatsächlich gerochen, den
Leichengeruch einer siebentägigen Leiche, und das rieche doch
anders. Die Feuerwehr ließ sich erweichen, griff nach der
Feuerleiter und sah durchs offene Fenster. Zum Glück hatte der
stille Nachbar aufgeräumt, so sagte er nachher, denn sonst wäre
die Feuerwehr wohl in Ohnmacht gefallen, denn das Alltags-Chaos
des stillen Nachbarn sei gemeinhin beträchtlich. Wochenlang hatte
man sich gesorgt um den stillen Nachbarn, wochenlang spekuliert,
ob er noch lebe oder schon umgekommen sei, und wenn, auf welche
Weise... Und nun stand er da, der stille Nachbar, mit Vollbart und
vor Gesundheit strotzend. Warum er das Fenster nicht gekippt habe?
fragte man ihn. Das Fenster kippen? Das habe er nicht gewußt, daß
man das Fenster auch kippen kann! Aber wenn das der Fall wäre, würde
er das in Hinkunft natürlich tun.
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