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Ortwin Rosner
Reise in das Innere des Äußeren
Ich habe ihn auf einer langen Reise kennengelernt, auf einer Reise durch mein eigenes Ich,
zu den äußeren Dingen des Daseins.
Der blaue Himmel, den er malt, hat mich
geprägt und die Gegenstände des alltäglichen Lebens, die Mauern und Fenster der Stadt,
blicken mich oft auf dieselbe Weise an wie seine Objekte, deren Geheimnis er in einer
stillen Minute, als sie ihrer selbst vergessend und von sich träumend waren, eingefangen
hat. Seine Erkenntnis ist, daß überall Weltraum ist. Nicht erst da oben, sondern schon
hier, in unserem Alltag, wenn wir die Augen nur richtig öffnen: überall schwirren
Trümmer durcheinander, Meteore, Planeten, Sternschnuppen.
Die abgebrochenen Laute ihrer Existenz, die
durch das Weltall gellen, sammelt Winfried Wessely ein.
Doch fangen wir von vorne an:
Scheinbar Banales, ja Unbedeutsames zeigen oft seine frühen Bilder aus den 70er Jahren:
abgenutzte Autoreifen, die wahrscheinlich keiner mehr haben will; zwei ausgediente alte Lastwägen, die wahrscheinlich auch nicht mehr
zu gebrauchen sind, in der Sonne von Kreta; ein Bootswrack irgendwo am Strand; oder
einfach nur ein paar alte Mauern, die so vor sich instehen.Unbedeutendes an unbedeutsamen
Orten , so scheint es. Freilich nur, wenn man
Bedeutsamkeit in einer ganz bestimmten Weise definiert. Die ungewöhnliche Kraft von
Winfried Wesselys Bildern liegt ohne Zweifel darin, daß auf sie in ganz besonderem Maß
das zutrifft, was eigentlich von Kunst generell gelten sollte: die traditionellen
Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft, durch welche Gegenstände erst aufgrund ihrer
Verwertbarkeit für irgendeinen Zweck Bedeutung zukommt, sind suspendiert. Die von der
Gesellschaft verliehene Bedeutung wird negiert. Doch indem das von ihr Verdrängte,
Kaputte, Alte, Unbrauchbare in seinen Bildern eine Stimme findet, wird eine andere ältere
Bedeutung der Dinge fruchtbar gemacht. Im Residuum ihrer Unbrauchbarkeit, ihres
Weggeworfenseins, Ausrangiertseins, das Winfried Wessely zur Darstellung bringt, kommen
die Gegenstände zu ihrem reinen An- sich- Sein; es ist ihnen gelungen, über den sonst
alles bestimmenden Zugriff der instrumentellen Logik hinauszuweisen. In ihnen geht eine
andere Welt auf.
Das Boot
etwa, das verwrackt am Strand von Kreta liegt, hat wohl, so nehme ich an, gerade in seiner
verhaltenen, aller Gesellschaft so ferne Stellung den Künstler neugierig gemacht.
Herausgelockt wird ihm durch Winfried Wesselys Bild im Grunde seine verborgene
Surrealität, befragt dabei die Rätselhaftigkeit des Daseins überhaupt. Distanzierung
von der Gesellschaft, die Abwesenheit von Bedeutung, aber auch das Aufgehen einer anderen
Welt: das alles findet seine radikale Zuspitzung in dem Motiv der WÜSTE, dessen er sich
wiederholt bedient und die ja als eine Konstruktion des reinen An- sich- Seins verstanden
werden kann.
Diese Wüsten sind aber nie ganz leer.
Irgendwelche Traumgebilde tummeln sich immer in ihnen. Hier sucht er die "Heiterkeit
und Fruchtbarkeit" ( so der Titel eines seiner Wüstenbilder); hier findet er die "Reste des Tempels".
Die Wüste ist der Ort des Traums.
Das ist kein Wunder: denn die Wüste kann man auch als ein Symbol des Schlafes verstehen:
auch dieser zeichnet sich durch die Abwesenheit von Bedeutung aus, in der dafür andere
Bedeutungen – eben jene des Traums – wach werden.
Darauf beruht die Zusammengehörigkeit von Traum und Wüste:
Der Ort der Wüste ist das Medium, das der Traum braucht, damit seine anderen Welten
aufgehen können. Nur in der überdimensionierten Präsenz der Leere können seine Welten
des Nichtsein den einen Modus der Existenz finden. Etwas Traumhaftes haftet jedoch allen
Gegenständen auf Winfried Wesselys Bildern an, auch dort, wo sie nicht offensichtlich dem
Irrealen und Phantastischen zugeordnet werden können.
Träumend scheinen sie und sinnend von sich
selber.
Das gilt selbst noch für die alten Eisenbahnfahrkarten aus den 70er Jahren, die er
gesammelt und in einer Mappe eingeklebt hat. Zu denken scheinen sie an die Zeiten, als sie
noch Zug Fuhren. Es geht wohl dementsprechend in Winfried Wesselys Bildern weniger darum,
Gegenstände einfach abzubildern, sondern viel mehr um das was man deren "Aura"
nennt. Darin liegt, so glaube ich, seine große Verwandtschaft mit Edward Hopper.Vieles
von dem, was man über Edward Hopper sagt, könnte man auch von Winfried Wessely sagen:
daß die Dinge eine "evokative Kraft" und die Orte eine "fast magische
Präsenz" entfalten, obwohl es sich um "Schauplätze scheinbarer
Ereignislosigkeit" handelt ( "ein Hotelzimmer, eine Tankstelle, ein einsames
Haus an der Küste" im Falle Hoppers ) und das er ein Maler mit der "Phantasie
für die Wahrheit des Realen" sei. 1) Doch enthält, mit Verlaub, die Aura Wesselys für
mich ungleich mehr als die Aura Hoppers:
Die abgebildeten Gegenstände tragen Geheimnisse an sich: Narben der Vergangenheit, ins
Hieroglyphenhafte übersetzte Spuren der Zeit, die sich in sie eingegraben hat:
* durch die Mauer etwa zieht sich ein
hybrides Muster von Rissen und
Brüchen, das den Betrachter in seinem magischen Bann zieht und dessen
faszinierende Verzweigungen ihm ein Rätsel scheinen stellen zu wollen –
ähnlich dem Rätsel, das sie Sphinx dem Ödipus stellt.
Sein Inhalt ist der Prozeß des Werdens und Vergehens: die Frage nach dem
Kern alles Lebendigen überhaupt.
Die herkömmliche Ratio vermag auf dieses
seltsame Rätsel nur irritiert zu reagieren. Für sie ist das Chaos das sich hier dem Auge
bietet, der Anblick der Furchen und Linien, die Zeit in der Mauer hinterlassen hat,
letztlich undurchdringlich und unbestimmbar.
* Auf den Lastwägen finden sich zahlreiche
Dellen und Beulen. Die Türen
stehen offen. Hieroglyphen scheinen sie so, wie sie dastehen, ganz und gar
zu sein. Denn die Risse, Beulen und Dellen, ja selbst die offengelassene
Tür,
sind ihnen nichts Äußerliches mehr: sie sind zu einem Teil ihrer Wesenheit
geworden; gleichsam sedimentierte Geschichte, sind sie wie die Falten im
Gesicht eines Menschen; mit ihnen möchten die Gegenstände erzählen, was
sie erlebt haben. In dem einen dunklen Moment, in dem der Maler ihre
Deformationen festgehalten und so ihr Leiden objektiviert hat, können sie
es.
Alles ist aufbewahrt, nichts ist vergessen, wollen sie sagen.
* Aber selbst der Boden, der sich vor den
beiden Lastwägen ausbreitet, hat
seine Narben: unregelmäßige Erhebungen, die zu uns zu sprechen scheinen.
* Und sogar der wolkenlose Himmel auf
Winfried Wesselys Bildern weist
faszinierende, undefinierbare Unebenheiten auf, die lautlos und unauffällig
über dem Horizont schweben und die ihm noch ganz genauso anhaften wie
der Fahrkarte ihre Zwickspur.
Es sind diese Linien, die sich durch alle
Erscheinungsformen des Daseins ziehen, die den Künstler anziehen und die er einzufangen
sucht.
Der Weg zur Abstraktion, den er auf seinen
späteren Bildern beschritten hat, ist lediglich der Weg zur Verallgemeinerung. An
Lebendigkeit haben seine Formen dabei nicht eingebüßt.
Immer geht es ihm darum, die Struktur der
Wirklichkeit zu untersuchen, in ihren Rissen, Verzweigungen und faszinierenden Abbrüchen.
Aufscheint dabei, was dem menschlichen
Verstand, sonst Alleslöser, nicht mehr lösbar ist: die Unfaßbarkeit des Daseins selbst.
Der Riß, der durch diese Welt geht, ist
beständiges Thema seiner Bilder.
Rissig sind sie auch noch dort, wo sie keine
Risse im herkömmlichen Sinne zeigen.
- Rissig ist etwa auch die Art, in der
Winfried Wessely rote und weiße ( oder
sind es blaue? ) Karos als "Reste des Tempels" in die Wüste
geworfen hat: ihr
paradoxon ist nun, daß gerade von diesem zerstörten Mosaik, dessen Teile
nur mehr in das Nichts der Wüste und die überdimensionale blaue
Leere des Himmels weisen und das uns so
eigentlich ein Symbol der Abgestorbenheit zu sein scheint, gleichzeitig eine ungeheure
Spannung ausgeht, die eine Spannung des zutiefst Lebendigen zu sein scheint.
Mit der vollen Kraft des Daseins strecken
sich noch die letzten zerbrochen Ausläufer dieses zerstörten Mosaiks in die
Unendlichkeit der Wüste hinaus, behaupten sich auch noch gerade in ihre Deformiertheit
als lebendige Bestandteile des Weltalls.
Indem das schachbrettartige Muster des
Tempels, das man auch als ein Sinnbild allgemeiner, identifizierender Begriffslogik
auffassen kann, zerfallen ist, wurde der Rahmen, in dem die Dinge bis dahin eingesperrt
waren, gesprengt. Frei wurden sie dadurch für ein Anderes, das sich nicht so
ohne weiteres einrahmen und bestimmen läßt. Die ungewöhnliche Energie, die dabei
ausstrahlen, mag von daher rühren; kurz leuchtet in ihnen das Moment der Freiheit auf.
- Gerade an diesem Bild läßt sich daher wie
an keinem zweiten der Triumph
des lebendigen Chaos über alle tote Ordnung, des Unregelmäßigen über alle
Regelhaftigkeit ablesen. Doch diese Anteilnahme an dem Lebendigen
erringen die Dinge nur um den Preis ihres eigenen Untergangs: nicht mehr
können sie sein, was sie einmal waren oder zu sein glaubten. Etwas ganz
anders taucht in ihnen auf, etwas noch nie Gesehenes kündigt sich am
Horizont an.
Adorno spricht von diesem
noch nie Gesehenen, das in der Kunst seine Erscheinung findet. Die Kunstwerke vergleicht
er mit Paradiesvögeln. 2)
Und er meint, sie
bringen Heilung, indem in ihnen die Möglichkeit des Andersseins auftaucht, wenn auch nur
schimmernd am Horizont, die verdrängte und unterdrückte Natur der Dinge.
Solche Paradiesvögel sind
für mich die Bilder Winfried Wesselys.
Ortwin
Rosner
Fußnoten:
1) alle Zitate aus einem Artikel über Edward Hopper im ZEITmagazin vom 26. Juni
1992, Seite 59
2) Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie
Herausgaben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. (11. Auflage.-
Frankfurt am Main 1999)
(= suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2) Seite 204 |