W. Wessely

 

Treffpunkt Oase

  


Zehn Ultrakurz-Geschichten

 


edition antilopenart

wien 1998

Rarität

1. Kapitel

 

RARITÄT


Luke Morac betrat ein Antiquitätengeschäft in der Absicht, eine Rarität zu erwerben.

Die Antiquarin, eine reife Mittvierzigerin namens Lulu Geiernest schlug ihre langbewimperten Lider nieder und frug nach des Herren Wünschen.

"Eine ganz seltene Rarität..."

Er räusperte sich, da er sich des Doppeltgemoppelten seiner Formulierung bewußt wurde.

"Ja, etwas in der Art, egal in welcher Form."

Lulu Geiernest kicherte verlegen.

Dann schlug sie einen Haken, warf den Kopf in den Nacken, daß die Perlenkette klirrte und ließ die Räder kreisen.

"Kommen sie mit!"

Sie krümmte ihren weißen Zeigefinger und stöckelte ins Hinterzimmer, wobei sie sich umblickend versicherte, daß dieser seltsam schöne Herr ihr auch wirklich folgte.

Dort stand ein stilvolles, altes Messingbett, mit glitzerndem Bettzeug und bestickten Kissen.

"Liebe mich!" war auf einem der wulstigen Pölster zu lesen. Lulu Geiernest wies mit zarter Hand auf die rosaroten Schriftzeichen.

Erst jetzt wurde Luke Morac klar, welche Art von Rarität er gesucht hatte. Lulu Geiernest schloß sanft die Tür und drehte den Schlüssel im Schloß.

 

 

Flußwassertee

2. Kapitel

 

FLUSSWASSERTEE


 

"Wenn man zum Ursprung zurückkehrt, kann alles sein!"

(Lumpazi von Uruguay)

Aus den Konjektaneen des Heiligen Asbus Asant

 

 

Ein Heer von Amazonen säumte den trägen Fluß. Die Spitzen ihrer Pfeile schaukelten sanft im Rhythmus der Rippen treibenden Wassers. Von der Montgolfière aus glich der Strom einer Anakonda, die soeben einer mit türkischem Kaffee gefüllten Wanne entstiegen ist und auf dem Weg zum Ozean im gleißenden Licht dreier Sonnen pirschend verweilt.

Über all dem lag der Geruch heißen Molleharzes und ein molybdänfarbener Schleier ließ eine sich nahende Hochzeit vermuten. Auf welcher Kugel war ich gelandet?

Als ich zu mir kam, hatten sich die Amazonen in kalifornische Flußzedern verwandelt, deren Zweige im Takt ferner Ruderschläge winkten. Kalifornien konnte es dennoch nicht sein, wo mein Auge niedergegangen war und um Klarheit rang. Ein Film bedeckte meine Brust, als ich nach langem Kampf mit dem einbeinigen Wächter am Tor zum Reich des unendlichen Morpheus erwachte, die Runen und Ziffern des Torbogens umkreisten mich noch, ein Film menschlichen Schweißes bedeckte meinen Brustkorb und tropfte nach rechts und links auf die nach ranziger Eselsmilch riechende Matratze.

Ich stand auf und aß ein paar Bissen vom madigen Schiffszwieback, den ich am Vorabend noch einmal über dem Feuer geröstet hatte.

Setbun fing im Schlaf an zu singen. Ich kratzte mich am Kopf. Draußen hörte man Jaguare knurren - oder waren es nur die Blätter der Palmen, die sich da aneinander rieben?

Mit dem Dogkart konnten wir in dieser Gegend so gut wie nichts anfangen, wir hätten ihn genausogut im Raumschiff lassen können. Ich zog mir meine Federweste an und setzte die Eisvogelschnabelsonnenbrille auf. Eine haarige Spinne ließ sich gerade an ihrem roten Faden vom Giebel des Schilfdaches herab. Sie schwebte eine Zeitlang über Setbuns Ohrläppchen, als sich dieser plötzlich zur Seite rollte und noch im selben Augenblick hellwach vor mir stand.

"Sintemalen wir heute noch unser Gemüt mit Blaukraut und Leberwurst ergötzen werden, laß uns weiterziehen edler Gesell!" sagte er und kicherte.

Wir packten ein jeder unseren sac a dos - auch die Mikadostäbchen vergaßen wir nicht! - und waren auch schon draußen

bei der in den hölzernen Angeln wie eine anatolische Nachtigall singenden Türe.

Die Straßen waren mit gezuckerten Mandeln übersät, mit Konfetti wie Konfetti sein muß. Die Strahlen der Sonne leckten mit zarten Zungen daran und ihr Speichel bildete glitzernde Ränder um diese Samen-gewordenen Augen orientalischer Schönheiten. Wir nahmen den nächsten Omnibus zum Hafen. Mit viel Geschick und wohl auch etwas Glück chauffierte der schnauzbärtige Grieche den vollen Omnibus durch die engen Gassen, warf er die tuckernde Blechkiste um geweißte Häuserecken...

Gackernde Hühner, blökende Schafe, sägende Esel, trompetende Zebras: der Bus war so etwas wie eine Arche Noah auf Gummirädern. Mit gelockerter Muskulatur langten wir am Hafen an. Setbun nießte dem vor ihm aussteigenden Bauern den Strohhut vom Kopfe und erschreckte damit zwei gehalfterte Pferde derart, daß sie sich losrissen und in den Straßenschluchten verschwanden.

Die 'Cidade de Borba', unser Schiff, lag schon am Quai, wir beeilten uns also, noch einigen Proviant zu besorgen, was alsbald erledigt war, und balancierten über die fußbreite Planke an Bord.

Inzwischen war es sechs Uhr abends geworden, die Tanzstunde der langen Schatten begann...

Wir nahmen die Hängematten aus dem sac a dos, entrollten sie wie Schriftrollen unbekannter Herkunft und zurrten sie hinter dem Steuerhaus am Oberdeck fest. Eine Geruchsmixtur aus Dieselöl, Fisch, faulendem Unrat und Bratenfett umspülte unsere Nasen, während wir abwechselnd auf das Treiben im Hafen und auf den Fluß hinunterblickten. Aus einem Transistorradio tönte ein Walzer, wie man ihn sonst nur beim Landeanflug auf den Flughafen von Schwechat bei Wien zu hören bekommt.

Endlich, als die Sonnenscheibe mit ihrem goldenen Bogen das schadhafte Dach des Gebäudes der Hafenverwaltung berührte, begannen die Matrosen mit den Vorkehrungen zum Ablegen...

Die 'Cidade de Borba' bekam dadurch, daß sich alle Menschen an Bord bei diesem Manöver auf die Hafenseite schlugen, um ihre Brotbeutel und Taschentücher zu schwenken, eine solche Schlagseite, daß sich die Besatzung gezwungen sah, einen Teil der Passagiere wieder auf die Plätze zurückzutreiben.

Als wir die Flußmitte erreichten, ging von der Abendsonne rot gefärbter Regen nieder. Vor unseren Augen zog nun die violett dampfende Hyläa vorbei, wie unser Alexander von Humboldt den Regenwald nicht zu Unrecht genannt hatte, wenn ich mich recht erinnere.

Wir machten ein Tänzchen, tranken guten Flußwassertee und richteten uns auch sonst häuslich ein.

- Nach einigen Tagen bekam Setbun einen verklärten Blick und begann zu philosophieren:

"Während der Flußfahrt geht das Gefühl für Raum und Zeit verloren, Maßstäbe plumpsen über Bord wie Kieselsteine ins dunkle Wasser, einen festen Tagesablauf gibt es nimmer. Fühlt man den bleiernen Kobold der Müdigkeit am Rücken hochkrabbeln, verkriecht man sich in der blauen oder grünen Hängematte...

Wenn sich der Magen knurrend meldet, knabbert man Cakes, und der mit der weißen Pupille des Mondes versehene Nachthimmel zaubert Dich an die Reling, wo Du vielleicht stundenlang stehst und den strömenden Spiegel schlaftrunken und schweigend befragst, bis Dich die Bugwelle wieder ans Tageslicht holt."

Und - plötzlich das Thema wechselnd, sagte er:

"Weißt Du eigentlich, daß dieser Urwaldboden da garnicht so reich an Mineralstoffen ist, wie man aufgrund der wuchernden Pflanzenschaft gerne annehmen würde? Ja, im tropischen Urwald vermodern abgestorbene Pflanzen sehr schnell, im Eilschritt sozusagen, freigesetzte Nährstoffe werden sogleich von Myriaden feiner und feinster Wurzelfäden aufgesogen und wieder der lebenden Vegetation zugeführt..."

 

 Pluto

 

 3.Kapitel

 

PLUTO


Es begab sich zu der Zeit, als der Mann vom Neptun das erste Mal mit Marco Polo zusammentraf.

Dichter Regen verwandelte den Vorplatz in eine milchige Lagune. Neptuno schob die Vorhänge zurück, die wie überdimensionale Spinnennetze das ohnehin trübe Licht abfingen. Er nahm die blaugrün getönten Haftschalen mit einem geschickten Fingerschnippen von den Pupillen.

Marco Polo gegenüber hegte Neptuno keine Zurückhaltung, er wußte, daß jener ein Mann von Welt war und sich geschwind an das purpurne Leuchten seiner Augen gewöhnt haben würde.

Marco Polo hatte sich im barocken Schaukelstuhl niedergelassen, die Füße hochgelagert, und war gerade dabei, einen Streifen Fruchtkaugummi umständlich auszupacken. Neptuno wandte sich ruckhaft um - es bereitete ihm immer noch einige Schwierigkeiten, sich auf die geänderten Schwerkraftverhältnisse einzustellen - und fixierte Marco Polo.

"Sie wissen also, worum es geht, Signore Polo?"

Marco Polo zuckte unter dem Blick des Neptunusers zusammen, ließ dann ein langgezogenes Brummen vernehmen, zog eine elegante Sonnenbrille aus der inneren Brusttasche seines himmelblau gefütterten, aus weinrotem Sammet gefertigten Jacketts, steckte den Kaugummi, nachdem er ihn in der Mitte geknickt hatte, in den Mund, und setzte die Gläser schließlich auf den Höcker seiner imposanten Nase, um welche ihn selbst Carl Malden beneidet hätte...

In reduzierter Phonlage sagte er dann so etwas wie:

"Ich denke schon..."

"Das ist fein!"

Neptuno bürstete seinen frischgepflanzten Schnurrbart.

(An und für sich sind Neptunuser haarloser denn Aale!)

"Das ist fein! Sie werden also den Chinesen das Geheimnis der Seidenraupe entlocken und bekommen dafür von uns die Unterlagen des Digitaluhrbaus auf der Grundlage singenden Quarzes..."

"Digitaluhrbau? Ein Weingarten in der Toskana wäre mir tausendmal lieber! - Aber bitte, ich sehe ein, daß es nicht in Ihrer Macht steht, solche Wünsche zu erfüllen!"

"Aber Signore Polo! Wer wird sich denn in seinen Bestrebungen auf derart selbstbezogene Ziele beschränken? Bedenken Sie doch, wie die Digitaluhr das Leben der Menschen verändern wird. Die Menschheit wird im Rhythmus des Quarzkristalls schwingen! Das entspricht in etwa dem Sprung vom Glühstrumpf zum Laserlicht! Kohärenz! Verstehen Sie? Kohärenz heißt das Zauberwort!

- Nun gut...

Was ich Ihnen noch anbieten könnte, wäre eine Heidelbeerfarm in der Nähe Tuneps, der Kapitale unseres Planeten..."

"Heidelbeerfarm? Nein danke...

...außerdem sind die klimatischen Bedingungen auf Ihrem Heimatplaneten nicht gerade das Nonplusultra meiner Vorstellungen!"

"Wir würden Ihnen natürlich einen Raumanzug zur Verfügung stellen, der irdische Verhältnisse simuliert, das versteht sich von selbst..."

Jemand klopfte an die Hotelzimmertüre. Der Hoteldiener brachte Neptunos Sommeranzug herein, frisch aus der Putzerei.

"Danke Bingo, hängen Sie ihn dorthin!"

"Ich bin nicht Bingo! Mein Name ist Marsidan!"

 

Der vermeintliche Hoteldiener zog seine Maske herunter, wobei zwei lange, grüne Fühler hervorschwuppten und wie Weidengärten im dämmrigen Zimmer hin und herwippten. Neptuno bedeckte seine Augen und wandte sich ab.

"Entschuldigen Sie mich einen Augenblick!" flüsterte er und verschwand im Badezimmer. Man hörte heisere, befremdende Geräusche, nicht unähnlich dem Krächzen eines hüstelnden Raben.

"Was hat er ihnen für das Geheimnis der Seidenraupe geboten? Einen Apfel und ein Ei oder einen halben Apfel und zwei Eier?"

"Ein Wochenendhaus auf dem Neptun!"

"Hä hä, ganz schön knausrig!" Der Marsianer gab ein gurrendes Kichern von sich.

Das Rauschen der Clospülung unterbrach ihn und er spitzte die Ohren, im wahrsten Sinne des Wortes, denn seine Hörorgane ähnelten nun Bleistift, deren Spitzen in Richtung Geräuschquelle schauten. Neptuno kehrte zu seinem Platz am Fenster zurück. Er hatte einen roten Seidenschal um den Bauch gebunden, auf seiner Stirn klebte ein kleines, herzförmiges Silberplättchen. Die Farbe

seiner Iris war nun taubengrau, aber noch eine Spur dunkler als zuvor. Außerdem trug er eine goldene Nase, die Gasmaske der Neptunuser.

"Der sensible Neptuno...!" ätzte Marsidan und hob die Flügelarme wie ein startender Star. Den Achselhöhlen entströmte ein beißender Geruch, der selbst die Temperatur gröberer menschlicher Nasen um einige Grade sinken ließ.

Marco Polo erhob sich langsam aus dem Schaukelstuhl und wandte sich der Tür zu.

"Ich möchte die geehrten lieben Herren nicht weiter stören..."

"Bleiben Sie noch einen Augenblick, Signore Polo!" näselte der Marsianer. Marco Polo hob die Brauen und hüstelte.

"Unter diesen Umständen Adieu, die Herren!" Er ergriff die Türschnalle...

"Ich biete Ihnen einen toskanischen Palazzo mit überdachtem Swimming Pool und gepflegtem Renaissance-Garten für das Geheimnis der Seidenraupe!" zischte der Marsianer, während sich in seiner Mundhöhle ein Gewitter zu entladen schien. Der Gestank im Zimmer war mit einem Mal verschwunden.

"Das hört sich ja recht passabel an!" Diesmal war es an Marco Polo, die Ohren zu spitzen.

"Leere Versprechungen! Hören Sie nicht auf ihn!" Neptuno hob warnend den Zeigefinger.

"Hier! Der Kaufvertrag als Beweis!" Marsidan warf Marco Polo ein orangefarbenes Couvert zu.

"Graf Veritaverde ist mit unseren Vertragsbedingungen einverstanden. Sie brauchen nur 'ja' zu sagen und der Palazzo gehört Ihnen!"

"Du morscher Marsianer wirst mir nicht ins Handwerk pfuschen!"

Neptuno holte aus und fesselte Marsidan mit einem violett-schimmernden Lasso, das er urplötzlich aus seinem Daumen herausgeschossen hatte. Marsidan bildete schnell eine Sichelnase und durchschnitt die schleimige Schnur.

Ich möchte meinen Lesern die schockierenden Details des nun folgenden Kampfes ersparen; er endete schließlich damit, daß sich die beiden unter Blitzen, Zischeln und bruzzelndem Donnern und Rauschen in Nichts auflösten.

"Träume hat man zuweilen..." dachte Marco Polo, sprang vom Diwan auf und schloß behende die Fenster. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick ging ein Wolkenbruch nieder, der sich wahrlich mit allen Wassern gewaschen hatte.

 

 

 

 

Celsius contra Fahrenheit

4. Kapitel

 

CELSIUS CONTRA FAHRENHEIT


 

Herr P. Celsius, ein Avantgardist in jeder Beziehung, ein wieselflinker Waschbär, mit anderen Worten ein gepflegter Borsalinoträger, übersprang elegant die schnitzelgroße Pfütze am Eingang des Museums und verschwand hinter der schweren Mooreichentür. Sein Verfolger, ein gewisser Mr Fahrenheit, legte die zur Schau getragene Heiterkeit augenblicklich ab und beschleunigte seine langen Schritte.

Helena, die zufällig Zeugin dieser Szene wurde, schloß ihre Handtasche und hob den gekrümmten Zeigefinger in Ohrläppchenhöhe, um ein Taxi anzuhalten.

P. Celsius verließ den Lift im dritten Stockwerk, steckte sich ein Stollwerck-Bonbon hinter die linke Wangenwand, drückte behutsam die schmiedeiserne Lifttür zu und schlich per Pedes noch eine Etage höher. Mr Fahrenheit fieberte. Wohin sollte er sich wenden?

Er steckte dem Portier eine Tafel Schokolade zu und bat ihn, sich hinter dessen Pult verbergen zu dürfen, aus Gründen der nationalen Sicherheit, wie er ihm glaubhaft versicherte.

P. Celsius war inzwischen bei den Neoimpressionisten angelangt.

"Signac, Signac, Signac... ah, da bist Du ja!" P. Celsius zog blitzschnell eine Spraydose aus der Jackentasche, richtete die Düse auf das Bild und drückte ab. Augenblicklich schrumpfte das Gemälde auf ein Zehntel der ursprünglichen Größe.

"Was treiben Sie da?"

Ein hünenhafter Wärter kam angerannt, bedrohlich mit dem Schlagstock gestikulierend. Herr P. Celsius besprühte ihn kurzerhand.

"Hilfe! Hilfe! Ich schrumpfe!" rief der Wärter, wobei seine Stimme immer höher und leiser wurde.

"Keine Angst, mein Lieber, in zwei Stunden bist Du wieder okay..." grunzte Celsius, steckte den Signac in die Westentasche und spazierte zum Lift. Trotz verringerter Körpergröße brachte der Wärter den Mut auf, Celsius zu verfolgen.

"Haltet den Dieb!" piepste er mit mäuschenhafter Stimme.

Aber P. Celsius war nicht aus der Ruhe zu bringen und beschleunigte seinen Schritt um kein Iota.

Als ihm der Däumling jedoch an die Wade seines rechten Beines sprang und ihn zu beißen versuchte, nahm er ihn hoch und setzte ihn auf einer modernen Plastik ab.

"Marino Marini - Stehender Akt" stand da auf einem goldenen Schild.

Mr Fahrenheit hatte inzwischen Verdacht geschöpft, P. Celsius könnte vielleicht doch übers Dach entfleucht sein; er verließ also sein unbequemes Versteck und drückte auf den Liftknopf. Hatte der Chef nicht irgendetwas von Impressionisten gefaselt? Hatte die Leuchtziffer nicht das dritte Stockwerk angezeigt, als er das Foyer des Museums betreten hatte?

Helena wollte soeben die Taxitüre schließen, als sie bemerkte, daß sie ihren Schirm im Museum vergessen hatte. Da sie während der Fahrt den Wetterbericht gehört hatte - er verhieß drallen Sonnenschein - beschloß sie, unverzüglich umzukehren.

"Sie haben Glück, Meister!" sagte sie zum Chauffeur.

"Ich weiß, Madame!" antwortete dieser und kurbelte fleißig am Volant. Draußen flackerten die ersten Neon-Röhren auf. Plötzlich betätigte der Taxifahrer das Bremspedal derart inbrünstig, daß Helena um ein halbes Haar im vorderen Fußraum gelandet wäre.

"Haben Sie das gesehen, Madame?"

"Ja, eine schwanzlose Meerkatze oder ein lautloser Brüllaffe..."

"Das war kein Tier, wenn Sie mich fragen!"

"Was dann? Ein Roboter?"

"Was weiß ich? Vielleicht eine Halluzination?"

"Wie dem auch sei..." Helena lehnte sich wieder im Fauteuil zurück. "Fahren Sie weiter, ohne Schirm fühle ich mich so schirmlos..."

 

Mr Fahrenheit hatte just den Lift in Bewegung gesetzt, als er P. Celsius die Treppe herabschlendern sah, die Lippen zu einem Liedchen geschürzt, die Hände in den Hosentaschen. Mr Fahrenheit reagierte sofort: Halt und Retour!

P. Celsius registrierte Fahrenheits nervöses Umhergeschalte auf der Stelle und wußte auch schon, was zu tun war. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen und die Beine in die Hände: Keinen Deut zu früh! Die Lifttür schwang auf, schmetterte gegen das Treppengeländer, Jugendstil übrigens, und heraus stürzte wie ein Stier der liebe Mr Fahrenheit.

 

An der Mooreichentür stieß P. Celsius derart heftig mit Helena zusammen, daß diese ihren Hut und ihre Perücke verlor - sie genierte sich wirklich ein bißchen, so glatzköpfig dazustehen -und P. Celsius... seinen Vorsprung.

Während P. Celsius, Gentleman der alten Schule, der er war, Helena beim Zurechtrücken der Perücke Hilfe leistete, packte ihn Fahrenheit am Kittel. P. Celsius riß sich los und stürmte, jeweils fünf Stufen auf einmal überspringend, die Eingangstreppe hinunter. Und - da stand glücklicherweise ein Taxi mit laufendem Motor.

"Was will man mehr?" dachte er.

Aber wer hätte Mr Fahrenheit eine derartige Behendigkeit zugetraut? Keine vier Schritte vom Wagen entfernt hatte er P. Celsius wieder eingeholt. Was blieb p. Celsius anderes übrig, als auch diesen Verfolger kräftig zu besprayen?

Mr Fahrenheit hatte sich das zweistündige Zwergendasein ja selbst zuzuschreiben! P. Celsius riß den Verschlag auf:

"Victoria Station, aber schnell!"

"Victoria Station? Die gibt es hier nicht!"

"Ach so? Na, dann: Gare du Nord!"

"Der Wagen ist leider besetzt, mein Herr, es tut mir sehr leid..."

"Mir auch!" rief P. Celsius, nahm den besprühten Taxifahrer und setzte ihn auf die Bordsteinkante neben Mr Fahrenheit.

"Viel Spaß, Ihr zwei!"

"He, was haben Sie mit meinem Chauffeur angestellt?!"

Helena war sichtlich entrüstet.

"Er ist ein bißchen geschrumpft, sorry! Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, fahre ich sie! Wo darf ich Sie absetzen?"

"Via Appia!"

"Via Appia? Aber dann sind Sie ja Helena Markopolos, die weltberühmte Schriftstellerin! Das nenne ich einen Zufall!"

"Irrtum, mein Lieber!"

"Nicht Helena Markopo...?"

Helena nahm ihre Maske ab.

"O nein! Sie, James?"

"Richtig!"

P. Celsius zückte abermals sein Spraydöslein, womit er bei James Beagle jedoch an den falschen geriet:

...denn dieser besaß natürlich einen Neutralisator, und er

zögerte keineswegs, diesen auch anzuwenden.

 

 

 

 

 

Nelkreich Katerakt

 

 

5. Kapitel

 

NELKREICH KATERAKT


 

Ein Sesselkleber war er wahrlich nicht, eher schon ein Tischerlrücker, der liebe Nelkreich Katerakt, wie er sich in einem Anflug von Selbstironie seit seinem siebenunddreißigsten Geburtstag nannte.

So könnte die Erzählung beginnen, tut sie aber nicht, denn wer könnte einen Mann namens Nelkreich Katerakt ernst nehmen, auch wenn sich im Verlauf der Ereignisse herausstellen würde, daß er wider Erwarten Charakter besitzt?

Es fängt also alles ganz anders an.

Franz Novak hatte den ganzen Nachmittag zeitunglesend im Kaffeehaus zugebracht und nun begannen seine Bein zu zappeln und nach Bewegung zu schreien. Er verließ das Cafe Bräunungshof, wie er es scherzhaft bezeichnete, und setzte sich in Richtung Donnerbrunnen in Trab.

Die Sonne umarmte die Rundungen der allegorischen Figuren, brachte das Patinagrün zum Sprechen, erschuf kleine, dunkle Nester und einen zarten, unhörbaren Ton der Wehmut, wie stets am Spätnachmittag, denn...

Franz Novak betrachtete mit spöttischem Lächeln die Einbände in der Buchhandlung: Verpackungskunst, dachte er.

Dann dachte er über die Vergangenheitsform von Denken nach.

"Ich dachte..." sagte er laut, während sich sein sprechender Mund in der Auslagenscheibe spiegelte. Es hört sich so an, als setzte ich meinen Gedanken ein Dach auf. Wenn ich etwas gedacht habe, habe ich quasi (quasi!) meinen Gedanken ein Haus gebaut, in dem sie wohnen können.

(Und wenn es ein Gewitter gibt, werden sie nicht naß!)

Diesen Gewittersatz dachte er aber gewissermaßen schon in Klammern, denn er kam ihm irgendwie lächerlich vor.

"Was dachten Sie?" schreckte ihn plötzlich eine Stimme aus seinen Gedankenkräuseln, eine angenehme, helle Stimme einer großgewachsenen Dame mit Dutt, deren Füße zudem in roten Stöckelschuhen steckten, was Franz Novak als erstes registrierte, denn sein Blick war während des Selbstgespräches zu Boden gesunken und hatten auf dem grauen Asphalt geruht.

"Ich, äh, ich dachte, ich kenne Sie zwar nicht, aber ich werde Sie trotzdem fragen, ob Sie Lust haben, mit mir ins Kino zu gehen?"

"Und ich dachte, Sie denken über die Vergangenheitsform von Denken nach..." sagte die Dame, die, wie Franz Novak jetzt festestellte, in verblüffender Weise Margareth Stoneborough-Wittgenstein ähnelte, oder besser gesagt jenem Porträt, das Gustav Klimt seinerzeit von ihr angefertigt hatte.

"Ich kann nämlich Gedanken lesen..." flüsterte sie ihm ins in diesem Frequenzbereich seltsam sensible Ohr, in ein Ohr, dessen Gehörgang von hier direkt ins Zentrum der Welt führte.

 

 

 

 

Kritschzasiu

6. Kapitel

 

KRITSCHZASIU


 

 

Es war ein Tag im Dezember.

Die Stadt ächzte unter dem Abgasgestank der metallenen Pferde. Alle Ritter waren furchtbar schlecht aufgelegt und wichen den sehnsüchtigen Blicken der schönen Maiden wohlbedacht aus; sie legten die Hand an den Griff ihres Schwerts, kickten mit den Stiefelspitzen Kiesel beiseite und trotteten ihrer Wege; der Gestank, der überall herrschte, hatte sie in gewisser Weise ungenießbar gemacht.

Die Häusertürme ragten grau und dünn in die beige Substanz des Himmels. In den Gasthäusern krähten die Ventilatoren der Klimaanlagen, auf den allerorts angebrachten Wandbildschirmen konnte man Tennisspieler beobachten, wie sie ihre Bälle übers Netz setzten und dabei Millionen verdienten.

Die Stimmung war auf dem Nullpunkt, es stellte sich nur noch die Frage, fällt sie noch weiter oder steigt sie wieder?

Es war dies naturgemäß auch eine Frage des Luftdrucks, eine Frage der Luftdicke. Die Kanäle der Stadt dröhnten und die darin schwimmenden Plastiksäcke diverser Kaufhäuser sandten ihre bunten Signale gen Himmel und in die Tiefe.

"Als der alte Harry Lime noch hier verkehrte..." wiederholte

die rauchgeschwängerte Stimme eines umfangreichen Mannes, eines Mannes, der nicht zur Rittergilde zählte, vielmehr Mitglied der in der Öffentlichkeit gefürchteten Gesellschaft der freischaffenden Detektive war.

"Als der alte Harry Lime noch hier verkehrte..."

Es war allen ein Rätsel, wie diese merkwürdigste aller Gesellschaften ihre Männer finanzierte, doch munkelte man von dubiosen Waffengeschäften. Aber es war nicht nur von Waffengeschäften die Rede, sondern auch von Software-Schmuggel zu entfernten Planeten. Und nicht zuletzt dürften diese Kerle Psychopharmaka und Rattengift als Quelle ihrer Einkünfte verwendet haben.

Abgesehen von ihren riesigen Bierbäuchen waren sie eigentlich unauffällig. Es war ihnen nicht leicht beizukommen. Zweifelsohne. Aber...

Aber es gab da eine Gruppe, die ihnen schwer zu schaffen machte: die jugendlichen Computerfreaks, oft Burschen von zwölf, dreizehn Jahren, die regelmäßig in die Datenbanken eindrangen und dort heilloses Durcheinander anrichteten, so ganz nebenbei, vom Computerterminal im Wohnzimmer ihrer Eltern, ein Auge auf dem TV-Schirm, wo gerade Fellinis "Stadt der Frauen" lief, das andere auf den flackernden grünen Zeilen des Terminals.

Obwohl monatlich neue Datensicherungen einprogrammiert wurden, gelang es den rothaarigen Burschen mit dem Irokesenschnitt immer wieder, die gespeicherten Daten zu löschen, beziehungsweise, neue, irreführende Satzgebilde einzugeben, was die subversive Tätigkeit der Gesellschaft der freischaffenden Detektive jedesmal aufs Gründlichste denaturierte.

Wo liegt nun diese Stadt, von der hier berichtet wird?

Auf Kritschzasiu, einem Planeten der zweiten Unterwelt.

(Wie sagt man auf Kritschzasiu "Guten Tag"? Ganz einfach:

"Zipf mi net an!" - und dazu niest man kräftig!)

Die Typen von der Gesellschaft der freischaffenden Detektive interessieren mich nicht die Bohne. Ich kicke sie hiermit aus diesem Kosmos hinaus...

 

 

 

Treffpunkt Oase

 

7. Kapitel

T R E F F P U N K T   O A S E


 

Haidrun war lange Zeit unterwegs gewesen im Wüstenstaub. Am Horizont zeichnete sich sanftmütig flimmernd eine Oase ab, die Haidrun, die Eidechse der Sahara, kräftig ausholend ansteuerte. Da huschte der Schatten eines Heißluftballons über sie hinweg. Haidrun glotzte hinauf in die gelbe Bläue des Himmels und konnte drei Personen ausnehmen, die sich über die Brüstung des Korbes beugten und zu ihr hinunterwinkten.

Die Burschen waren pünktlich, das mußte man ihnen lassen. Haidruns Spur glich einem Kreuzottergerippe, aber sie machte sich darüber keine Sorgen, denn der Wüstenwind tat gute Arbeit. Die Knotenschrift ihrer Erinnerung blitzte aus ihren wissenden Augen, die alterslos und gleichmütig ihren Weg ausleuchteten. Sie wußte, wie wichtig den drei Männern aus London ihre Botschaft war, die sie ihnen züngelnd überbringen würde, und deshalb hatte sie keine Sekunde gerastet.

Sie beschrieb drei Kreise um das Dutzend Palmen der Oase und ließ sich dann am Rande des dampfenden Tümpels nieder, der zu dieser Tageszeit einsam und verlassen ins All starrte.

Die drei Männer, es handelte sich um Captain Beefhaar, seinen Freund und Gelehrten Dr. Julius Reindl und dessen Sekretär Franz, waren von Jules Verne geschickt worden, um Informationen für ein Buch zu sammeln.

Da waren das Wissen und die Erfahrung Haidruns unentbehrlich. Der Korb des Ballons setzte mit einem dumpfen Knirschen direkt neben dem Tümpel auf. Captain Beefhaar und seine Freunde überreichten Haidrun als Geschenk des Schriftstellers ein punktförmiges leuchtendes Wesen in einem goldenen Käfig. Haidrun bedankte sich mit zischelndem Züngeln und wies die Männer mit hypnotischem Blick an, sich im Halbrund zu setzen und die Ohren zu spitzen.

"Zunächst übergebe ich Ihnen den Schlüssel: er lautet A-E-I-O-U. Er ist leicht zu merken, aber bitte behandeln sie ihn trotzdem vorsichtig, damit kein Zahn ausbricht oder verlorengeht. Und nun zur Botschaft - stenographieren Sie ruhig mit, Franz! Sie lautet: RT MNH KLP FGRW SDD CHVB D HK Z TRT WSWX BZ JKFG B KHK BH

KLK FBT RTGSFG KL LK JHNM Z ZRZ TFT. Ihr Auftraggeber wird sicher keine Schwierigkeiten haben, den Schlüssel richtig anzuwenden. Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit, meine Herren!"

 

 

 

 

 

Am SEH

8. Kapitel

A M    S E H


 

Rauhhäutig sitzt er auf dem Fels am See, animalisches Wohlbefinden in der Leibesmitte, auf der Haut und in jedem seiner zahlreichen Härchen.

Er blickt hinauf in die quellenden Wattebäusche, auch Wolken genannt, und spürt das Kühl der Wassertröpfchen an den Nasenflügeln.

Er blickt hinaus auf den See und sieht weiche Wellen durch das moorige Wasser fahren, in dessen tiefe gemütliche Quastenflosser grundeln.

Rauhhäutig sitzt er auf dem Fels am SEH...

In den Wäldern grummeln Bären und die fleißige ABC-Meise baut buchstabengetreu ihr Nest.

 

 

Silberne Segel

9. Kapitel

 

WARTEN AUF SILBERNE SEGEL


 

Die wulstigen Lippen waren stumm.

Dunkle Augen liebkosten den weißglimmenden Horizont. Die Quellwolken quasselten in einem fort über seinem Haupt, aber es war ein leises Quasseln, ein süßes Quasseln, das ihn kaum berührte. Er wartete auf silberne Segel, auf ein bronzenes Schiff mit silbernen Segeln.

Das Dorf war zur Gänze aus Kuben zusammengesetzt, deren Rauminhalt schon vor langer Zeit durch König Xenon genormt worden war. Vor einem solchen Kubus saß der bärtige Mann mit den wulstigen Lippen, eine Statue im Winde der Zeit, ein bewegungsloses Wunder, umspült von den gläsernen Wirbeln der nach Salz schmeckenden Luft.

Die Brandung regelte hier alles.

Die Kunde ihres Gleichmaßes ging weithin über alle Welt, und die wenigen Wanderer, die diesen Ort trotz der unendlich großen Hindernisse und Hürden erreichten, behielten das Rauschen auf Lebenszeit im Muschelgehäuse ihrer Ohren.

 

 

Die Vorlesung

10. Kapitel

 

DIE VORLESUNG


 

Ein Mann betritt das Anatomische Institut der Medizinischen Fakultät in der Währinger Straße zu Wien. Zwischen den Grüppchen disputierender Studenten hindurch bahnt er sich den Weg über die Treppe.

Eine Blondine verteilt den Standard.

Wer ist der Fremde?

Was sucht sein Sinn im Reich der Bürgerlichen Medizin?

Er schnuppert.

Es ist halbzwölf Uhr Winterzeit; der Oktober greift schon nach dem errötenden Laub.

Das mächtige Treppenhaus nimmt ihn auf, säulenhafte Archaik umgibt ihn, den scheinbar zielstrebigen...

Er erklimmt den Mezzanin.

"Eintritt nur für Studenten" steht in weißen Lettern auf weißen Flügelzargen. Spiegelbildlich erstrecken sich nach beiden Richtungen lange türbewährte Gänge, mit zartem Chloroformkarbolkaffeeduft gefüllt, bergend so manches organische Geheimniss (wohlgemerkt mit gedoppeltem s!).

Modelle der Embryonalstadien, klebrig, verstaubt, aus undefinierbarem Material in holzgefaßten Vitrinen, auch Tierknochen und Skelette nimmt er wahr.

Aus dem Buffet im ersten Stock dröhnt das Stimmengewirr der Kinder bessersituierter Bürger dieser traditionsreichen Stadt an der blaugrauen Donau. Das Sigmund Freud Museum ist nicht weit, zur Berggasse sinds bloß'ein paar Schritte.

Im Augenblick hat der Mann Gewißheit über seine Kunst, sicher, er ist mit körperlichen Fehlern behaftet, aber das stärkt seine geistigen Fähigkeiten. Ob er Magier ist, weiß ich nicht zu sagen. Sein Haupthaar lichtet sich bereits, sein Schritt jedoch hat heute eine seltene Perfektion. Eine schöne Vorlesung über Neurologie, das wäre jetzt das Richtige und genau nach seinem Geschmack, am besten gehalten von einer weißhäuptigen Koriphäe seines Faches, ja.

Auf der Treppe zum Dachgeschoß sitzt ein Mädchen mit runder Intelektuellenbrille. Der Fremde mag solche Brillen nicht, sie sind für ihn Fassungen einer gläsernen Unerotik, einer Prüditität, fälschlicherweise, ein vor Tagen gefaßtes Ur- oder Vorurteil, eine Gebäudeerrichtung im Geiste, ein Narrenturm, den die Stadtväter aus musealen Gründen nicht abtragen lassen.

Als er, der wohlgekleidete, über die Stufen heraufeilt, wirft sie ihm einen interessierten Blick zu. Komplexe Abtast- und Perzeptionsmechanismen werden in Gang gesetzt. Nichtsdestotrotz erreicht unser Mann unbeschadet die Tür zum Vorlesungssaal, er öffnet sie, tritt ein in ein in der Tat etwas sauerstoffarmes Lebenszelt, zieht die Tür vorsichtig hinter sich zu, um die Vorlesung nicht zu stören. Einige Stehplätze an der Balustrade sind noch frei, keine roten Pferde zu sehen.

Doch ach, es handelt sich um eine Physikvorlesung für Erst- oder Zweitsemestrige...

Ein Professor mit düsseldorfer Zungenschlag hält die Stunde, über drei Etagen verteilen sich die Kinder. Auf dem Pult, fast benötigt man einen Operngucker, um es zu sehen, ist ein einfacher Versuchsaufbau installiert: ein Wagen auf einer schiefen Ebene, und sogleich wird auch der Mechanismus ausgelöst. Der Wagen rollt über die schiefe Ebene hinab und wird am Ende seiner Bahn von einem Gummipuffer reflektiert, worauf er beinah zum Ausgangspunkt zurückkehrt, so gering sind die Reibungskräfte gehalten.

Il Professore erklärt den Vorgang in gewählten Worten:

"Wie Sie sehen können, verkürzt sich der vom Wagen zurückgelegte Weg mit jeder Reflexion; das ist auf den Luftwiderstand und die Umwandlung von kinetischer Energie in Wärmeenergie in Form der auftretenden Reibung zurückzuführen..."

Der Fremde, der sich auf eine schöne Neurologievorlesung gefreut hatte, verdunkelt sich und erinnert auf einmal an eine Figur aus Rembrandts Nachtwache, sein Ärger scheint beträchtlich, denn sein Gesicht zeigt eine karminrote Färbung.

"Reibungskräfte, Luftwiderstand!" murmelt er verächtlich und fährt kurzentschlossen durch seinen Spitzbart.

"Dir werd' ich die Mechanik schon noch austreiben, o Du mein Professore di Dusseldorfo!" denkt er und umfaßt mit Daumen und Zeigefinger der Linken seine kräftige Nasenwurzel, während er mit der Handfläche der Rechten einen Parabolspiegel bildet, dessen Brennpunkt sich auf den kleinen Rollwagen richtet, drei Stockwerke tiefer über die endlosen Reihen studentischer Köpfe hinweg.

Inzwischen wendet der Wagen auf halbem Wege, doch das soll sich schon bei der nächsten Reflexion am Gummipuffer ändern:

Das metallene Gefährt bewältigt plötzlich und wie aus heiterem Himmel beziehungsweise Herbsthimmel wieder siebzehn Zweiunddreissigstel der Versuchsstrecke. Die Temperatur der Handfläche unseres obskuren Mannes steigt auf 48 Grad Celsius, und als das Mädchen mit der Intelektuellenbrille von der Treppe nun auch den Vorlesungssaaal (wohlgemerkt mit getrippeltem a!) betritt, schießt der Versuchswagen über die Bahn hinaus und landet mit unnatürlich lautem Scheppern auf dem Fußboden.

Gelächter.

Doch dem Professor ist klar, daß niemand am Versuchsaufbau gefummelt hat und sein Blick verklärt sich.

"Ausnahmmen bestätigen die Regel!" bemerkt er sinnend.

Der Mann mit den Schnallenschuhen breitet seine Fledermausflügel aus, dreht ein paar Ehrenrunden unter dem Plafond des Vorlesungssaals und verglüht. Seine Asche regnet auf die Köpfe der Studenten. Il Professore ruft nach seinem Assistenten, aber der weiß von nichts.

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